Zwischen Reproduktion und Reflexion. (Literarischer) Antisemitismus im Deutschunterricht
Die von beiden Gutachtenden (Lorenz/Fischer) mit der Bestnote bewertete Masterarbeit von Jacqueline Lehmann erschließt, ausgehend von einer Bestandsaufnahme der niedersächsischen Kerncurricula im Fach Deutsch sowie zentraler Lehrwerke für Mittel- und Oberstufe, das Potential des Deutschunterrichts für einen antisemitismuskritischen Literaturunterricht. Sie identifiziert damit auch ein Desiderat der fachdidaktischen Forschung. Die Arbeit fragt sowohl danach, welche antisemitischen Diskurse in den Lehrmaterialien für das Fach Deutsch zu finden sind, als auch ganz grundsätzlich nach den Potentialen des Fachs für eine Kritik des und eine Prävention gegen Antisemitismus.
Eine Aufklärung über antisemitische Stereotype wird in der didaktischen Literatur als Ziel postuliert: Antisemitismus soll erkannt und reflektiert werden. Die antisemitismussensible Ausbildung der Lehrkräfte erweist sich jedoch, wie Lehmann zeigen kann, als ungenügend; an Universitäten wird das Thema zu wenig gelehrt, zudem wird Antisemitismus ausschließlich im Kontext der Shoah thematisiert, was das Thema kontrafaktisch historisiert. Zwar könne, führt Frau Lehmann überzeugend aus, die Holocaust Education Empathie befördern, sie reduziere jedoch die vom Ressentiment Betroffenen auf eine Opferrolle. Der Literaturunterricht wird dabei, wie die Arbeit zeigen kann, auch in der Fachdidaktik Deutsch weitgehend ausgeklammert. Die Antisemitismusprävention an der Schule adressiert traditionell die gesellschaftswissenschaftlichen Fächer, obwohl das Vorurteil sich gerade in Artefakten von Literatur und Film manifestiert und dort auch – oft unbewusst – fortwirkt.
Frau Lehmanns Untersuchung der Kerncurricula für die niedersächsischen Gymnasien ergibt, dass die Thematisierung des literarischen Antisemitismus eigentlich ideal abdecken könnte, was hier gefordert wird, nämlich „Sprache als Kommunikationsmedium analytisch zu rekonstruieren und zu hinterfragen.“ Die Begriffe Antisemitismus oder Judentum kommen in den Kerncurricula allerdings überraschenderweise an keiner Stelle vor. Genannt werden beispielhaft für verschiedene Epochen Lessings Nathan der Weise, Frischs Andorra und Schlinks Vorleser. Für das Rahmenthema „Literatur und Sprache um 1800“ werden Texte von Hoffmann, Brentano, Arnim, Heine und Chamisso angeführt, die, wie Frau Lehmann in ihren Analysen zeigt, erhebliches Potential für antisemitismuskritische Lektüren aufweisen, die in den Kerncurricula jedoch nicht ansatzweise realisiert werden. Auch die Analyse der einschlägigen Lehrwerke aus dem Cornelsen Verlag fällt ernüchternd aus.
Die Analysen Frau Lehmanns belegen die Vernachlässigung des Themas Antisemitismus im niedersächsischen Deutschunterricht. Ihre Arbeit bleibt jedoch nicht bei diesem negativen Befund stehen, sondern schließt sehr konstruktiv mit konkreten Empfehlungen für die Thematisierung von Antisemitismus im Deutschunterricht. Ihre Verknüpfung von großer fachwissenschaftlicher Expertise und einem gesellschaftspolitischen Anspruch wird nun vom Präsidium durch die Ehrung als „Leibniz Talent" gewürdigt. Wir gratulieren!
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